Meinung: der Versuchung widerstehen

4 Mai 2021
Handlungsfelder: Aller Aktionsbereiche
Diskriminierungsgrund: Weitere Diskriminierungsgrunde

Die Impfung wird zwar dringend empfohlen und gefördert, ist aber keine Verpflichtung. Weder für die gesamte Bevölkerung, noch für bestimmte Gruppen, oder gewisse Berufe. Und selbst wenn ein Gesetz oder eine Verordnung eine generelle Impfung vorschreiben würde, wäre es zunächst notwendig, allen Menschen überhaupt ein Impfangebot machen zu können.

Dieser Ausgangspunkt ist wichtig, um folgende Frage zu beantworten: Kann die Teilnahme an bestimmten Aktivitäten davon abhängig gemacht werden ob man geimpft ist oder nicht?  Zum Beispiel der Zugang zu bestimmten Orten oder Dienstleistungen (Krankenhäuser, Kneipen, Restaurants, Kinos, Theater, Museen, Verkehrsmittel, Sporthallen usw.)? Die Teilnahme an bestimmten Aktivitäten (Kurse, Schulungen, Veranstaltungen, Feriencamps, Sportvereine, ehrenamtliche Tätigkeiten usw.)? Die physische Rückkehr in die Schule oder für Lehrer ins Klassenzimmer? Dies ist nicht unerheblich. Die Versuchung ist groß, die Impfung als Schlüssel zu betrachten, um die Maßnahmen zu lockern.

Allerdings müssen drei grundlegende Aspekte dieser Überlegung angesprochen werden.

Zunächst einmal gibt uns der chaotische Verlauf der Impfkampagne zu verstehen, dass es viele Monate dauern wird, bis die gesamte Bevölkerung geimpft sein wird. Einige Menschen sind aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation, der digitalen Kluft, ihrer begrenzten Autonomie, ihres Aufenthaltsstatus oder ihres Lebensstils (Reisende) weit von den offiziellen Netzwerken und Strukturen entfernt. Wie können wir ein Verbot bestimmter Aktivitäten gegenüber denjenigen rechtfertigen, die geimpft werden wollen, aber dies (noch) nicht können? Wie wir bereits in unserem Bericht "Covid 19 - Menschenrechte auf dem Prüfstand" dargelegt haben, zeigen die Schwierigkeiten beim Aufbau einer effektiven, gleichberechtigten und zugänglichen Impfkampagne, wie prekär unser Sozial- und Gesundheitssystem ist. Und ungewollt sind die Schwächsten unter uns erneut als schwerste getroffen in dieser Situation. Sind wir daher wirklich in der Lage, das Angebot an Aktivitäten nach dem Impfstatus der Individuen aufzuteilen? Werden wir dann nicht noch eine Schicht von Verwirrung oder sogar Willkür zu den bereits bestehenden hinzufügen?

Andererseits würde ein vom Impfstatus abhängiger Zugang zu bestimmten Dienstleistungen oder Aktivitäten viele Menschen benachteiligen, die aufgrund ihrer Behinderung, ihres Gesundheitszustands, ihres Alters, ihre Schwangerschaft usw. nicht geimpft werden können. Es gibt auch Menschen, die sich aufgrund ihrer Ansichten oder Überzeugungen dafür entscheiden, sich nicht impfen zu lassen. Müssen sie für Ihre Wahl auf diese Art "bezahlen" ? Die moralische oder ethische Frage ist hier nicht neu. Unsere Gesellschaft hat sich glücklicherweise dafür entschieden, die Krebserkrankung des Rauchers und die Herz-Kreislauf-Erkrankung des Genussmenschen zu behandeln, und auch nach Fahrerflucht wird der Fahrer auf der Intensivstation versorgt. Der Zugang zu den Grundrechten und die Achtung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung hängen in keiner Weise vom Verhalten derjenigen ab, die sie einfordern. Denn alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.  Solange die Impfung nicht gesetzlich verpflichtend ist, muss daher die Freiheit, nicht geimpft zu werden, respektiert werden. Und in Ermangelung spezifischer Vorschriften ist es nicht Sache privater Akteure, Personen aufgrund ihres Impfstatus zu unterscheiden oder zu kontrollieren.

Schließlich stellt sich natürlich auch die Frage nach dem allgemeinen Interesse. Angesichts der großen Schwierigkeiten, die durch die Pandemie entstanden sind, der Einschränkungen sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Aktivitäten und der Einschränkung einiger unserer Rechte und Freiheiten leidet unsere gesamte Gesellschaft, sowohl individuell als auch kollektiv, wobei bestimmte Bereiche besonders betroffen sind. Wäre eine Impfpflicht oder die Kontrolle des Impfstatus nicht das A und O der Lockerungsstrategie? Es besteht kein Zweifel, dass der Kampf gegen die Pandemie ein legitimes und allgemeines Ziel ist. Alle Texte, die sich auf die Grundrechte beziehen, gehen davon aus, dass Rechte und Freiheiten im Namen des Gesundheitsschutzes eingeschränkt werden können. Dies muss jedoch durch ein Gesetz geschehen - was immer noch nicht der Fall ist - und die getroffenen Maßnahmen müssen verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sein. Diese Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber, der, man kann es nicht oft genug wiederholen, auch durch die Einbeziehung der Meinung der Bürgerinnen und Bürger und die Förderung der öffentlichen Debatte arbeiten muss. Nur unter dieser Voraussetzung können verschiedene Dienstleistungen begleitet von individuellen sanitären Bedingungen (Impfungen, Tests) erneut ermöglicht werden.

Die Impfung muss als ein ergänzendes Element zu allen anderen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gesehen werden. Die Wiedereröffnung von Kinos, Theatern, Kneipen, Restaurants und Sporthallen, die Erweiterung der Aktivitäten der Schul-, Universitäts- und Arbeitseinrichtungen sowie die Erleichterung von Reisen sollten nicht allein von der Impfung abhängig gemacht werden. Sie muss Teil einer allgemeineren Strategie sein, die andere bekannte Maßnahmen (soziale Distanzierung, schützende Gesten und Handlungen, Bildschirme, Masken...) kombiniert, so dass die Lockerung so umfassend wie möglich sein kann, unabhängig davon, ob die Menschen geimpft sind oder nicht.

Patrick Charlier, Direktor Unia

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